"Wir haben die Verpflichtung, die Ortskräfte nach Deutschland zu holen"

Die künftige Koalition hat sich darauf verständigt, freiwillige Bundesaufnahmeprogramme, etwa für Afghanistan, zu beenden. Das könne nicht für ehemalige Ortskräfte gelten, sagt Generalmajor a.D. Markus Kurczyk vom Verein Patenschaftsnetzwerk Ortskräfte. "Diese Menschen haben mit Arbeitsvertrag für Deutschland gearbeitet, sie haben Deutschland überhaupt erst in die Lage versetzt, die Dinge zu tun, die wir in Afghanistan getan haben."

ntv.de: Wie viele ehemalige Ortskräfte aus Afghanistan sind seit Abzug der Bundeswehr 2021 nach Deutschland gebracht worden?

Markus Kurczyk: Ungefähr 4700 Ortskräfte. Dazu kommen ungefähr 17.500 Familienangehörige, so dass wir insgesamt bei ungefähr 22.000 Menschen sind, die mit dem Ortskräfteverfahren, das seit 1. Januar 2013 in Kraft ist, nach Deutschland gekommen sind.

Seit 2013?

Wir hatten schon vor dem Abzug Fälle, in denen Ortskräfte bedroht wurden. Zumindest bei der Bundeswehr war immer schon klar, dass Menschen, die einer akuten Bedrohung unterliegen, weil sie für uns arbeiten, nach Deutschland gebracht werden. Dafür wurde das Ortskräfteverfahren eingerichtet, das später von anderen Organisationen und Ministerien übernommen wurde. Das betrifft durchweg Menschen, die für Deutschland eine Leistung erbracht haben.

Also beispielsweise Personen, die für die deutsche Botschaft gearbeitet haben.

Zum Beispiel, ja. Das sind einerseits Menschen, die an den Zugangskontrollen zur Botschaft gearbeitet haben, aber auch das Personal, das in der Botschaft unterstützt hat. Wenn eine Botschaft kulturell oder humanitär aktiv wird, brauchen Sie Menschen, die übersetzen - wir haben nur wenige Diplomatinnen und Diplomaten oder Soldatinnen und Soldaten, die Dari und Paschtu sprechen. Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die GIZ, die über viele Jahre als staatliche Organisation Projekte in Afghanistan durchgeführt hat.

Union und SPD schreiben in ihrem Koalitionsvertrag: "Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen." Das beendet auch das Aufnahmeprogramm für ehemalige Ortskräfte, oder?

Nein, das sehen wir völlig anders. Das Ortskräfteverfahren ist kein freiwilliges Programm. Mit dem von Ihnen zitierten Satz sind aus unserer Sicht andere Programme gemeint, etwa das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan, ein Programm von Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt, das im Oktober 2022 begonnen wurde. Das Ziel dieses Programms war es, monatlich und aus humanitären Gründen 1000 Angehörige vulnerabler Gruppen aus Afghanistan zu holen - also etwa Menschenrechtler, Frauenrechtlerinnen oder queere Personen. Tatsächlich sind aber nicht monatlich 1000 Personen über dieses Programm nach Deutschland gekommen, sondern insgesamt rund 1000.

Mit diesem Programm haben Sie als Patenschaftsnetzwerk nichts zu tun?

Wir haben als Verein die Koordinierung des Programms unterstützt, aber mit Ortskräften hatte das nicht zu tun.

Ist es aus Ihrer Sicht ein legitimes Programm?

Das ist ein gutes Programm. Wer darüber nach Deutschland kommen will, muss auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko aus Afghanistan nach Pakistan kommen. Dort finden dann Sicherheitsinterviews statt. Wer diese Sicherheitsinterviews positiv absolviert, bekommt eine Aufnahmezusage und muss auf den nächsten Flug nach Deutschland warten. Nach meiner Kenntnis warten in Pakistan derzeit ungefähr 3000 bis 4000 Menschen, zum Teil schon seit ein oder zwei Jahren. Dieses Programm war in der Tat ein humanitäres freiwilliges Aufnahmeprogramm der Bundesregierung. Es zu beenden, ist ebenso eine politische Entscheidung.

Die Sie nachvollziehen können?

Ich finde heikel daran, dass bereits durch Deutschland erteilte Aufnahmezusagen nun zurückgezogen werden sollen. Das halte ich für schwierig.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat bei Welt TV gesagt, die Personen, die ein Recht auf Einreise aus Afghanistan nach Deutschland haben, seien "zum Teil nicht sicherheitsüberprüft". Das Innenministerium sagt dagegen, Sicherheit habe "oberste Priorität". Können Sie einschätzen, wer recht hat?

Es kommt auf den Zeitpunkt an. Wir erinnern uns alle noch an die Evakuierungsoperation in Kabul im Sommer 2021 mit den schrecklichen Bildern des überfüllten Flughafens. Auch Deutschland hat damals Menschen aus Afghanistan evakuiert. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt wusste kein Mensch, wer da eigentlich nach Deutschland kommt. Wer es schaffte, auf den Flughafen zu kommen, der wurde ausgeflogen. An die Ortskräfte hat da übrigens keiner gedacht; in dieser ersten Phase sind kaum Ortskräfte aus Kabul evakuiert worden, weil die einfach nicht auf den Flugplatz gekommen sind. Später gab es Vorwürfe gegen Angehörige der deutschen Botschaft in Pakistan, Personen mit gefälschten Papieren seien nach Deutschland gelassen worden. Danach stand dieses Programm für ein paar Monate still, was bestimmt gute Gründe hatte. Seit das Programm wieder angelaufen ist, bin ich mir sehr sicher, dass die Sicherheitsüberprüfungen funktionieren.

Zurück zu den Ortskräften: Wie viele sind noch in Afghanistan oder in Pakistan?

Wir schätzen, dass in Pakistan noch ungefähr 480 Ortskräfte einschließlich der Familien sind. Und wir betreuen noch einige Fälle, die aus unterschiedlichen Gründen derzeit nicht aus Afghanistan rauskommen - weil sie keine Papiere haben oder eine schwierige Familiensituation. So gehören nach dem Verständnis der deutschen Behörden volljährige Kinder nicht zur Kernfamilie. Für Eltern ist es aber schwierig, die 20-jährige Tochter zurückzulassen. Das sind Einzelschicksale, die insgesamt ungefähr 50 Menschen betreffen. Insgesamt geht es also um etwas mehr als 500 Menschen. Schon deshalb sehen wir keinen Grund, das Ortskräfteverfahren zu stoppen. Diese Menschen haben mit Arbeitsvertrag für Deutschland gearbeitet, sie haben Deutschland überhaupt erst in die Lage versetzt, die Dinge zu tun, die wir in Afghanistan getan haben. Dass der Einsatz strategisch gescheitert ist, können wir nicht den Menschen anlasten, die dort für uns gearbeitet haben. Nach unserem Verständnis haben wir eine rechtliche Verpflichtung, sie nach Deutschland zu holen, wenn es eine Gefährdung gibt und die Sicherheitsinterviews positiv verlaufen.

Eine rechtliche Verpflichtung?

Gerade in der Anfangszeit war das Patenschaftsnetzwerk ein stark bundeswehrlastiger Verein. Ich bin selbst ehemaliger Soldat. Ohne meinen Dolmetscher hätte ich vor Ort nicht arbeiten können. Den lasse ich doch jetzt nicht zurück. Das ist deutlich mehr als eine Aufnahme aus humanitären Gründen. Das ist eine Verpflichtung.

Der zitierte Satz aus dem Koalitionsvertrag gilt auch als Reaktion auf die Messer-Anschläge von Geflüchteten in den vergangenen Monaten. Gibt es einen solchen Vorfall, für den eine ehemalige Ortskraft verantwortlich ist?

Mir ist kein Fall aus unserer Betreuung bekannt, wo eine ehemalige Ortskraft straffällig geworden ist.

Sie haben als Verein vermutlich nicht die Möglichkeit, alle ehemaligen Ortskräfte und ihre Angehörigen in Deutschland zu betreuen. Haben Sie trotzdem einen Überblick, wie bei dieser speziellen Gruppe die Integration gelingt?

Es ist schwieriger geworden. Denn auch die Afghaninnen und Afghanen, die schon in Deutschland sind, bekommen natürlich die Diskussionen mit. Es gibt eine große Sorge, dass sie abgeschoben werden könnten. Da müssen wir immer wieder deutlich machen: Nein, du bist nicht gemeint, du bist weder Straftäter noch bist du unerwünscht. Ein zweiter Punkt ist, dass viele von denen, die hergekommen sind, noch Familie in Afghanistan haben. Die bekommen natürlich mit, wie schlimm die wirtschaftliche Situation ist, und dass Mädchen ab der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Die Sorge um die Angehörigen belastet sie natürlich.

Aber grundsätzlich kann man sagen: Da das alles Menschen sind, die bis zu 15 Jahre mit Deutschen zusammengearbeitet haben, haben sie eine starke Beziehung zu Deutschland, zu uns. Viele von ihnen können Deutsch, viele von ihnen sind tolle Beispiele für eine gelungene Integration. Das sind keine Wirtschaftsflüchtlinge. Sie können von uns Wertschätzung erwarten, für das, was sie für uns getan haben. Leider erfahren sie diese Anerkennung überhaupt nicht mehr.

Mit Markus Kurczyk sprach Hubertus Volmer

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