Was steckt eigentlich hinter dem Weltrekord-Wahnsinn?

Ein Leichtathletik-Weltrekord jagt den nächsten. Die Laufszene erlebt gerade eine beispiellose Rekordhatz. Was steckt dahinter? Heinz Klein, Bundestrainer beim Deutschen Leichtathletik-Verband, spricht über die plausibelsten Gründe und die Folgen für den Nachwuchs.

Willkommen in der neuen Weltrekord-Welt. Einen ersten Vorgeschmack, eine Art Sneak Preview für das rekordstarke Jahr 2025, gab es schon am Silvestertag 2024 zu bestaunen: Die Kenianerin Beatrice Chebet blieb als erste Frau überhaupt über fünf Kilometer auf der Straße unter der Marke von 14 Minuten und stellte in 13:54 Minuten einen Weltrekord auf. Der Ton war gesetzt.

So richtig wild entwickelte sich dann der Februar. Angeschnallt: Gleich sechs Weltrekorde wurden im kürzesten Monat des Jahres aufgestellt. Von den 1500 Meter in der Halle bis zum Halbmarathon auf der Straße und den 20 Kilometern im Gehen.

Mitunter fielen sogar in einem Lauf gleich zwei Bestmarken. So geschehen bei Superstar Jakob Ingebrigtsen. Am 13. Februar rannte der Norweger im französischen Liévin die Meile, also 1609 Meter, in der Halle in 3:45,14 Minuten (mehr als eine Sekunde schneller als der alte Rekord) und stellte in diesem Lauf quasi als Beifang mit seiner Zwischenzeit einen Rekord über die 1500 Meter in 3:29,63 Minuten auf. Der Amerikaner Yared Nuguse hatte erst fünf Tage zuvor die Bestmarke aufgestellt. So schnell geht das mittlerweile.

Carbonplatten sorgen für spürbare Veränderungen

Ein Monat voller Rekorde. Die Zeiten purzeln einfach immer weiter. Diese Flut an Rekorden mündet in einer Frage: Was passiert da gerade? Was hat es damit auf sich? Zufall?

Der deutsche Lauf-Bundestrainer Werner Klein sieht mehrere Faktoren als Gründe für die Anhäufung. "Zum einen haben sich Trainingsmethoden in den vergangenen Jahren weiterentwickelt, was eine immer gezieltere Leistungs- und Wettkampfsteuerung ermöglicht. Zum anderen spielt auch die technologische Entwicklung, insbesondere im Bereich der Wettkampfschuhe, eine Rolle", sagte er zu sport.de und ntv.de.

In den vergangenen Jahren, seit circa 2017, haben vor allem die sogenannten Carbon-Schuhe im Profibereich dafür gesorgt, dass die Zeiten purzeln. Die im Schuh integrierten Carbonplatten sorgen für eine Versteifung des Zehengelenks. So kommt es zu einer Energieeinsparung beim Laufen. Zudem ermöglichen spezielle Dämpfungs-Schaumstoffe in den Schuhen Energierückgewinnung. Der Laufsport ist auch ein Kampf der Schuhindustrie geworden. Sie sollen Athleten bis zu vier Prozent schneller machen. Wertvolle Sekunden, sogar Minuten bei langen Distanzen.

Fragezeichen einerseits, Unschuldsvermutung andererseits

Zudem seien Wettkämpfe "heute oft optimal auf Weltrekorde ausgerichtet, was eine Rekordjagd begünstigt", erklärt der Bundestrainer weiter. Viele Zeiten der jüngeren Vergangenheit verblüfften aber auch Experten und die Fans, mitunter führte es auch zu Kopfschütteln in der Laufszene. Ein paar Fragezeichen schwingen bei aller Unschuldsvermutung dann doch mit.

Vor allem bei immensen Sprüngen wie dem Rekord von Jacob Kiplimo, der vor gut einer Woche in Barcelona gleich mal satte 48 Sekunden vom alten Halbmarathon-Rekord nahm. Eine halbe Ewigkeit über die 21,1 Kilometer.

DLV-Coach Klein sieht neben den genannten Aspekten die zunehmende Professionalisierung des Sports als einen entscheidenden Faktor. "Athletinnen und Athleten profitieren von optimierten Trainingskonzepten, einer verbesserten Sportwissenschaft und einer ausgefeilten Rennstrategie", sagt er. Gleichzeitig führe die hohe Leistungsdichte im internationalen Vergleich dazu, "dass sich Sportler gegenseitig zu immer besseren Leistungen pushen".

Getreu dem Motto: Wenn einer plötzlich Zeiten knackt, an die man sich früher nicht gewagt hätte, trauen sich auch andere Sportler mehr zu, rennen schneller an. Der mentale Aspekt könnte bei der Rekordflut ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen.

Die Leichtathletik lebt von Rekorden, aber ...

Tatsächlich hat sich die Trainingslehre in den vergangenen Jahren nochmal stark weiterentwickelt. Athleten und Athletinnen laufen im Training vermehrt an ihrer anaeroben Schwelle, machen mehrere schnelle Einheiten am Tag und steigern so ihre Leistungen.

Auch die Wettkampfernährung hat über die längeren Distanzen eine wichtigere Rolle eingenommen. Die gezielte Aufnahme von perfekten Mixturen an Kohlenhydraten während des Laufs hat einen Höhepunkt erreicht. Die Gels und Getränke werden durch ihre chemische Beschaffenheit teils speziell durch den Magen direkt in den Darm zur besseren Aufnahme geleitet.

Auch im deutschen Team und Umfeld werde über die Rekorde und Entwicklungen gesprochen, sagt Klein. "Unser Fokus liegt dabei darauf, wie wir die Erkenntnisse aus diesen Leistungen für unsere eigenen Athletinnen und Athleten nutzen können. Wichtig ist, dass trotz aller Fortschritte die Grundprinzipien eines nachhaltigen und eines gezielten Leistungsaufbaus gewahrt bleiben", so der Bundestrainer.

Klar ist: Die Leichtathletik lebt schon immer von Rekorden und der ewigen Jagd danach. Fraglich ist allerdings schon, was solche plötzlichen Anhäufungen von krassen Fabel-Rekorden wie im Marathon oder Halbmarathon oder auch den Mitteldistanzen beim Nachwuchs auslösen können. Motivieren sie oder sorgen die kaum greifbaren, teils unmenschlichen Zeiten eher für Demotivation? Auch die Kadernormen werden knallhart an Zeiten bemessen.

Kiplimo jagt schon im April den nächsten Rekord

"Rekorde sind ein wesentlicher Bestandteil des Sports und haben immer eine große Strahlkraft - sowohl für die Athletinnen und Athleten selbst als auch für die öffentliche Wahrnehmung der Leichtathletik", sagt Klein. Er glaubt, dass diese "inspirierend wirken und den Nachwuchs motivieren" können. Gleichzeitig sei es wichtig, "realistische Entwicklungsschritte aufzuzeigen und nicht allein auf Rekorde als Maßstab zu setzen", sagt Klein weiter. "Letztlich lebt die Leichtathletik von der Vielfalt der Leistungen und Geschichten, die der Sport schreibt - und nicht nur von Zahlen."

Trotzdem werden naturgemäß die Rekorde die größten Schlagzeilen schreiben. Den vielleicht verrücktesten erlebte die Lauf-Welt im vergangenen Herbst, als die Kenianerin Ruth Chepngetich in 2:09:56 Stunden den Marathon-Rekord der Frauen um fast zwei Minuten drückte. Ein gigantischer Sprung, bei dem selbst Experten die Worte fehlten.

Und eigentlich ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis die allermagischste Grenze fällt. Der Männer-Marathon-Rekord liegt bei 2:00:35 Stunden. Aufgestellt von Kelvin Kiptum 2023, kurz darauf verstarb der steil aufgestiegene Lauf-Star bei einem Verkehrsunfall in Kenia.

35 Sekunden fehlen also nur noch bis zu dieser Barriere, von der es einst hieß: Niemals wird sie geknackt. "Heute ist es möglich, unter 2 Stunden zu laufen, was ich vor ein paar Jahren noch nicht gesagt hätte", sagte Lauf-Trainer und Besteller-Autor Herbert Steffny zu sport.de. Umso spannender blickt die Szene auf das Marathon-Debüt vom neuen Halbmarathon-Weltrekordhalter Jacob Kiplimo. Im April startet er in London erstmals über die 42,195 Kilometer. Die Rekordjagd geht weiter. Immer weiter.

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