Mit ihren 15 Euro pokert die SPD verdammt hoch

Noch vor Unterzeichnung des Koalitionsvertrags streiten Union und SPD darüber, ob der Mindestlohn auf 15 Euro steigen soll oder nicht. Die Debatte zeigt vor allem, wie hypersensibel manche Politiker sind. Erstaunlich ist aber auch die Chuzpe der SPD.

Ein Hauch von Ampel weht dieser Tage durch Berlin: Seit dem Wochenende findet sich die werdende schwarz-rote Koalition in einem Streit wieder. Thema: der Mindestlohn. Steigt er demnächst auf 15 Euro oder nicht? "Das haben wir so nicht verabredet. Wir haben verabredet, dass die Mindestlohnkommission in diese Richtung denkt. Es wird keinen gesetzlichen Automatismus geben", sagte CDU-Chef Friedrich Merz am Sonntag der "Bild"-Zeitung. In der ARD zeigte sich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil dagegen überzeugt: Doch, der Mindestlohn werde auf 15 Euro steigen, da sei er sich sicher.

Geht das jetzt schon wieder los? Tragen die Beinahe-Koalitionäre ihren Streit über die Öffentlichkeit miteinander aus? So wie zu Zeiten von Scholz, Habeck und Lindner? Geht der Ampelstreit jetzt weiter, nur in schwarz-rot? So scheint es zumindest. Teile der SPD springen im Dreieck, die Jusos wollen den Koalitionsvertrag ablehnen. Die Parteilinke kritisiert Merz, er heize vor dem Mitgliederentscheid der Partei über den Koalitionsvertrag die Stimmung unnötig an. Er verharre im Modus des Oppositionspolitikers. So sagte es die Sprecherin der Parlamentarischen Linken, Wiebke Esdar im Deutschlandfunk.

Das ist allerdings ziemlich übertrieben. Wie der Interview-Mitschnitt zeigt, antwortete Merz lediglich auf die Frage, die ihm gestellt wurde. Und seine Antwort war ziemlich sachlich und obendrein korrekt. Es gibt in der Tat keinen Beschluss, den Mindestlohn per Gesetz auf 15 Euro zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union vereinbart, die Mindestlohnkommission ihre Arbeit machen zu lassen. Wenn sich Merz einen Vorwurf gefallen lassen muss, dann den, die Hypersensibilität von Teilen der SPD unterschätzt zu haben.

Was bedeutet "erreichbar"?

Wo ist dann das Problem? Grund für den Unmut dürfte sein, dass Union und SPD etwas anderes verstehen, wenn sie die Worte im Koalitionsvertrag lesen. Darin heißt es: "Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar." Offenbar interpretieren viele Sozialdemokraten das Wort "erreichbar" als "das wird auf jeden Fall so kommen". Entsprechend äußerte sich Klingbeil, aber gegenüber dem "Stern" auch die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger.

Die Gewissheit, die die SPD dabei an den Tag legt, ist erstaunlich. Experten zufolge ist es zwar möglich, dass der Mindestlohn im kommenden Jahr auf 15 Euro steigt. Es wäre aber das obere Ende der Fahnenstange, nicht zwingend das tatsächliche Ergebnis der Abwägungen der Mindestlohnkommission. Das hängt mit den beiden Kriterien zusammen, an denen sich das Gremium orientieren soll: die Entwicklung der Tariflöhne und das Medianeinkommen. Letzteres ist neu und geht auf eine Richtlinie der EU zurück. Demnach soll der Mindestlohn sich in seiner Höhe an 60 Prozent des Medianeinkommens orientieren.

Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) entsprächen 60 Prozent des Medianeinkommens derzeit einem Mindestlohn von 14,70 Euro pro Stunde. Bis 2026 könne er auf 15 Euro steigen, so das arbeitgebernahe Institut. Das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut arbeitet mit ähnlichen Zahlen. Es geht von 15,12 Euro im kommenden Jahr aus. Würde nur dieser Medianwert allein den Ausschlag geben, wäre ein Mindestlohn von 15 Euro also absolut realistisch.

Doch die Entwicklung der Tariflöhne soll ja ebenfalls berücksichtigt werden. Die steigen zwar ebenfalls, aber nicht so stark. Legt man nur sie zugrunde, müsste der Mindestlohn lediglich auf 14 Euro anwachsen. Die Tariflöhne bremsen den Anstieg also, die Orientierung am Medianeinkommen treibt ihn. Damit entsteht für die Kommission ein Korridor zwischen 14 und 15 Euro. In diesem Rahmen wird sich die Kommission bewegen. Von einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns von derzeit 12,82 Euro ist also auszugehen. Die Entscheidung soll Ende Juni fallen und für die kommenden zwei Jahre gelten.

Das IW sieht in der Formulierung im Koalitionsvertrag sogar den Versuch, politischen Druck auszuüben. "Mit diesen politischen Kompromissformeln, die unterschiedliche Auffassungen zwischen Union und SPD in der Mindestlohnpolitik widerspiegeln, wird Druck auf die Mindestlohnkommission ausgeübt", warnte das Institut in einer Stellungnahme. Letztlich macht die Mindestlohnkommission nur einen Vorschlag. Annehmen müsste die künftige schwarz-rote Regierung ihn nicht. Wenn die SPD nun ständig auf 15 Euro Mindestlohn drängt, könnte das in der Kommission als Auftrag verstanden werden, als Druck, die "richtige" Entscheidung zu treffen.

So wie der "Stern" SPD-Politikerin Rehlinger zitiert, wirkt das gar nichts so abwegig: "Es soll keine neue gesetzliche Korrektur geben, aber alle Seiten der Mindestlohnkommission haben sicher ein Interesse, sich an die maßgeblichen Vorgaben zu halten und das SPD-geführte Arbeitsministerium und auch die Gewerkschaften werden darauf achten."

"Wäre blöd, wenn wir uns die ganze Zeit einig wären"

Sollte die SPD allerdings einen Vorschlag unter 15 Euro für 2025 ablehnen, gäbe es echten Krach in der Koalition. So weit ist es aber noch nicht. Denn der Koalitionsvertrag lässt einen Spielraum. So heißt es dort lediglich, die 15 Euro seien 2026 erreichbar. Wann genau das sein soll, ist nicht festgelegt. Die Kommission könnte beispielsweise eine schrittweise Erhöhung vorschlagen, die erst Ende 2026 bei 15 Euro ankommt.

Bisher sind die Koalitionsspitzen erkennbar bemüht, den Ball flach zu halten. "Nee, überhaupt nicht", antwortete CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann im ntv Frühstart auf die Frage, ob ihn die Scharmützel an die Ampel erinnerten. "Es wäre ja blöd, wenn wir uns die ganze Zeit einig wären", sagte er schmunzelnd. "Wir müssen aus dem Klein-Klein raus", forderte er. "Jetzt über Interpretationen streiten, macht keinen Sinn." Klingbeil äußerte sich ähnlich. Für ihn sei einer der Konsequenzen aus dem Dauerstreit der Ampel: "Wir müssen das besser machen. Weniger öffentlicher Streit, mehr Zusammenhalt, die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und gucken, wie wir dieses Land stärken."

Konfliktpotenzial wird der Mindestlohn aber weiterhin bieten. "Ab 2026 muss der gesetzliche Mindestlohn von der Mindestlohnkommission auf 60 Prozent des Medianeinkommens angehoben werden", forderte Christian Bäumler. Er ist der Vize-Bundesvorsitzende der CDA - dem Sozialflügel der CDU.

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