Am Bürgergeld entscheidet sich (fast) alles
Wer nicht will, der hat schon. So einfach könnte es im deutschen Sozialstaat zugehen, so fair und gerecht auch: Wer rundum arbeitsfähig ist, doch eine zumutbare Arbeit ablehnt, hat wohl schon eine oder braucht das Gehalt nicht. Braucht er dann noch Bürgergeld? Nein, braucht er nicht. Wenn er zugleich schwarz arbeitet, ohne Steuern und Abgaben, ist das ärgerlich genug. Aber Unterhalt und Miete soll er davon gefälligst selbst berappen und nicht den Ehrlichen auf der Tasche liegen.
»Bedürftigkeit« hat der Dreh- und Angelpunkt aller Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu sein. Wer eine zumutbare Arbeit annehmen könnte, verabschiedet sich damit aus dem Kreis der Bedürftigen. Kann sich diese Woche eine Koalition der Vernünftigen darauf einigen? Bevor die Republikaner in den USA verrückt wurden, nannten sie es eine Zeit lang »compassionate conservatism«.
Am Bürgergeld wird sich vieles zeigen. Es wird die Mutter aller Schlachten um die Lern- und Reformfähigkeit des Landes und den Kurs der künftigen Regierung. Die gute Nachricht: Es gibt kein Erkenntnisproblem. Auch keines mit dem Reformwillen, wenn man Friedrich Merz glaubt, wie wohl eines mit dem behördlichen Vollzug und mit manchen Sozialdemokraten. Sie sollten sich in eine frisch veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung vertiefen. Die liest sich wie ein Krimi, inklusive verwischter Spuren der Missetäter.
Das beginnt mit den Zahlen, welche reihenweise linke Mythen und falsche Wahrheiten widerlegen. Laut Statistik waren im Februar knapp 1,9 Millionen Bürgergeld-Bezieher vollumfänglich arbeitsfähig, zur Annahme vertretbarer Tätigkeiten verpflichtet, wiewohl aktuell arbeitslos. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen ist zwischen 20 und 44 Jahren. Ebenfalls etwa die Hälfte ist seit weniger als zwölf Monaten arbeitslos. Dass sie trotzdem schon Bürgergeld beziehen, heißt: In den zweieinhalb Jahren vor der Arbeitslosigkeit waren sie nicht durchgehend, sondern nur kurzzeitig beschäftigt. Zu reden ist also über eine große Gruppe überraschend junger, in letzter Zeit relativ wenig beschäftigter Personen, die zu alimentieren viel Steuergeld kostet. Alles in allem belaufen sich die Leistungen der Grundsicherung laut Bertelsmann Stiftung aktuell pro Jahr auf rund 52 Milliarden Euro, wovon etwa 29 Milliarden Euro als Bürgergeld gezahlt werden.
Muss das so sein? Nein. Es sollte so sein.
Milde Sonderregeln aus der Coronazeit blieben auch nach Corona im Bürgergeld bestehen und mindern den Druck zur schnellen Arbeitsaufnahme, zum früheren Rückgriff auf das eigene Vermögen (so vorhanden), zum Umzug in eine billigere Wohnung. Ebenfalls in der Coronazeit sank die Zahl der Sanktionen wegen Fehlverhaltens. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen hat sie das Vor-Corona-Niveau seitdem nie wieder erreicht, bei Weitem nicht. Derweil stiegen die Bürgergeldsätze fürsorglich-vorsorglich so stark, dass sie Anfang 2025 rechnerisch von 563 Euro auf 539 Euro hätten sinken müssen, doch dazu kam es nicht, was Wunder. Nicht zuletzt ist manche politisch schon beschlossene Verschärfung liegen geblieben, als die Ampel auseinanderbrach. Wenn das jetzt in neue stolze Spiegelstriche im schwarz-roten Koalitionsvertrag umgerubelt und für neu verkauft würde, es wäre Rosstäuscherei.
Selbst das bisschen, was das Bürgergeld besser machen wollte, missriet. Seit Einführung ist die Zahl der Jobaufnahmen nach aufwendiger Weiterbildung oder kurzfristiger Eingliederungs-Ertüchtigung laut der Bertelsmann-Studie um bis zu 16 Prozent geschrumpft. Von 1000 Bürgergeld-Beziehern, die es zurück in reguläre Arbeit schaffen, verdanken ganze 55 die Vermittlung dem Arbeitsamt (2014: 137). Während diese Quote stetig sank, stieg der (Verwaltungs-)Aufwand pro Betroffenen. Und, ach ja, damit das nicht ins Auge fällt, wurden die »Eingliederungsbilanzen«, vormals gesetzliche Pflicht der Jobcenter, mit dem Bürgergeld-Gesetz gestrichen. Das nennt man wohl vorbeugende Vernichtung von Spuren. Unterm Strich hat das »Bürgergeld« so viel Unheil angerichtet, dass es schnurz ist, ob es gut gemeint war.
Wer das ändern möchte, muss seinen inneren linken Schweinehund oder den der SPD überwinden. Der muss die Passage im einschlägigen, gern nur linkslastig zitierten Hartz-IV-Urteil des Verfassungsgerichts (2019) zur Kenntnis nehmen, wonach »vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen« ist, »wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern.« »Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt.« Vulgo, siehe oben: Wer nicht will, der hat schon.
In der Bertelsmann-Studie wird dazu das Konzept »Workfare« vorgestellt: »Nur die Personen sollen Anspruch auf Grundsicherung haben, die wirklich auf sie angewiesen sind«, und eben das sei niemand, der eigenständig einen höheren Verdienst als diese Grundsicherung erzielen könne. Vulgo: Wer für Arbeit mehr kriegt als fürs Nichtstun Grundsicherung, der möge bitte arbeiten. Ich muss zugeben, dass ich Tropf dachte, das sei selbstverständlich. Doch ist verdächtig viel von Anreizstrukturen die Rede, die jeden Arbeitslosen abwägen lassen, ob er für ein womöglich nur geringfügig höheres Gehalt als das Bürgergeld wirklich fünf Tage die Woche arbeiten gehen möchte. Allein: Das ist nicht Sinn der Sache oder vernünftiger Umgang mit fremder Leute (Steuer-)Geld. Es ist einer der schlechtesten Witze im ganzen deutschen Sozialstaat.
Man kann die Überlegungen, das Bürgergeld solcherart vom Kopf auf die Füße zu stellen, als unmenschlichen Entzug des Existenzminimums verhetzen, gewiss. Die Sozialdemokratie pflegt ein Menschenbild, das »Bedürftigkeit« als Beziehungsbeschreibung des Arbeitslosen zum Rest der Gesellschaft überwinden will, doch damit gescheitert ist.
Konservative und Liberale, die der SPD schon einiges zugestanden haben, sollten darum wenigstens ihr Menschenbild bewahren: Jeder, der kann, hat für sein Existenzminimum selbst zu sorgen. Wenn er nachweislich nicht kann, kommen Staat und Steuerzahler. Dann. Nicht früher. So einfach.