Unheimlicher Blick in die Zukunft der Popmusik

Album der Woche:

Wie groß die Macht von Lalisa »Lisa« Manobal über die aktuelle Popkultur ist, kann man daran ablesen, dass die aus Thailand stammende Sängerin am kommenden Sonntag bei der Oscarverleihung auftreten wird – obwohl sie mit Kino bisher (noch) nichts zu tun hatte. Manobal gibt aber in der neuen, dritten Staffel der erfolgreichen Serie »The White Lotus«  ihr Schauspieldebüt, das reicht wohl als Verbindung zur Filmwelt, um ihren gemeinsamen Auftritt mit den Sängerinnen Raye und Doja Cat sowie ihrer Single »Born Again« zu rechtfertigen. Die zeitliche Parallelität des Oscarauftritts mit der Veröffentlichung ihres ersten Soloalbums an diesem Freitag dürfte kein Zufall sein. »Alter Ego« ist eines der größten Pop-Ereignisse dieses Frühjahrs. Größer vielleicht sogar als Lady Gaga, deren lange erwartetes neues Album nächste Woche erscheint. Gaga darf bei den Oscars übrigens nicht auftreten, obwohl sie mit dem missglückten »Joker«-Musical sogar im Kino zu sehen war. So ändern sich die Zeiten.

Lisa, Mitglied der immens erfolgreichen K-Pop-Girlband Blackpink aus Südkorea, gilt zugleich als Popstar der Stunde und der Zukunft. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird »Alter Ego« diverse Streaming- und Verkaufsrekorde brechen, denn das Album ist auf maximale Vermarktung und Profit ausgelegt, designt, wenn man so will. Es ist in vielerlei Hinsicht ein perfektes Popalbum: Es bietet zahlreiche potenzielle Charthits, prominente Gaststars und musikalische Stile für jeden Geschmack. Dazu eine Interpretin, die gar nicht darauf wartet, sich erst mit ihrem nächsten oder übernächsten Album neu zu erfinden, wie es Pionierinnen wie Madonna bis Gaga vorgemacht haben.

Sie schlüpft schon jetzt in fünf verschiedene Rollen. Je nachdem, in welchem Genre sich Lisa gerade bewegen will, inszeniert sie sich in den Songs und Videoclips in Superheldenverkleidungen: die verruchte Roxi für die hektische Single »Rockstar« (die nichts mit Rockmusik zu tun hat) oder als Sunni, das niedliche Mädchen von nebenan, als Nullerjahre-Popqueen Kiki, Ravergirl Speedi und als die toughe Rapperin Vixi, die sich in »Fuck Up The World« mit Hip-Hop-Star Future battelt. Zu ihren Avataren, einer Art K-Pop-Avengers, bringt Lisa Ende März auch noch ein eigenes Comicheft heraus.

Zu den weiteren Featuregästen zählt neben Raye und Doja Cat, der Rapperin Megan Thee Stallion und Amapiano-Star Tyla auch Latin-Erneuerin Rosalía, mit der zusammen Lisa der beste Track ihres Albums gelingt: das furiose, von Flamenco und Reggaeton durchdrungene »New Woman«, in dem experimenteller und futuristischer Pop in einen griffigen Refrain münden. An den Songs haben Charts-Profis wie Max Martin, Ryan Tedder, Rob Knox und das Duo Stargate mitgeschrieben und -produziert. So gibt sich Lisa durchaus unterhaltsam mal als »BADGRRRL«, mal als maximal genreflexibles »Elastigirl« oder als verträumte Disco-Prinzessin, wenn sie den guten alten Radiohit »Kiss Me« von Sixpence None The Richer in »Moonlit Floor« neu auflegt. Am stärksten ist sie im Zusammenspiel mit ihren Gästen, vielleicht ist die Rolle als Solokünstlerin doch noch ein wenig ungewohnt.

Am Ende geht das vordergründig clevere Konzept doch nicht auf. Denn wer die »New Woman« Lalisa Manobal hinter all den verschiedenen Rollen und Anverwandlungen ihres Debüts wirklich ist, wofür sie neben einem Faible für Glamour und Luxusartikel (»Lifestyle«) steht, was sie mit ihrem globalen Ruhm anzufangen gedenkt, bleibt im bunten Getöse des Albums opak.

Pop darf natürlich rein hedonistisch und narzisstisch sein, dennoch hinterlässt »Alter Ego« Leere und Kälte. Die Tracks könnten auch von einer mit trendgerechten Popkultur-Parametern gefütterten KI entworfen worden sein. Auch wenn die Unterhaltungsunternehmerin Lisa inzwischen ihr eigenes Label gegründet hat und nicht mehr bei der mächtigen K-Pop-Schmiede YG Entertainment unter Vertrag ist, so bleibt das immer auch faszinierende Industrielle des koreanischen Popmodells bis auf Weiteres Teil ihrer künstlerischen DNA.

Möglicherweise sind dies Einwände aus einer vergangenen Ära, als man noch dachte, perfekter Pop entstünde durch die gekonnte Fusion von Zeitgeist, Produktionsskills und einer eigenwilligen Künstler:innen-Persönlichkeit. Und nicht durch Künstlichkeit und Marketing allein. So oder so ist »Alter Ego« ein Science-Fiction-Album, ein Blick in die Zukunft der Popmusik. Ob Utopie oder Dystopie, darüber lässt sich womöglich noch eine Weile streiten. (5.0/10)

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