RWE warnt Schwarz-Rot davor, alte Kohlekraftwerke wieder stärker einzusetzen

Es gibt in Deutschland Kraftwerke, die eigentlich am Ende ihres Lebens sind, aber doch noch ständig in Bereitschaft sein müssen. Sie stammen zum Teil aus den Sechzigerjahren, werden mit Steinkohle, Erdgas oder gar Erdöl betrieben und stehen zum Beispiel in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen. Ihre Betreiber wollten sie eigentlich stilllegen, doch die Bundesnetzagentur braucht sie seit Jahren als sogenannte Netzreserve oder Kapazitätsreserve. Das Wirtschaftsministerium nannte diese Kraftwerke einmal liebevoll »Schutzengel auf der Reservebank« der Stromversorgung.

Bislang dürfen die Anlagen nur in Ausnahmefällen einspringen, zum Beispiel wenn an kalten und dunklen Tagen die Kapazität der Stromnetze nicht ausreicht, um den vielen Windstrom aus Norddeutschland zu den großen Verbrauchszentren im Süden zu leiten. Oder wenn das Angebot an Strom aus unvorhergesehenen Gründen nicht reicht, um die Nachfrage zu decken. Im Normalfall aber stehen diese Kraftwerke einfach still.

Doch geht es nach den Koalitionsverhandlern von Union und SPD auf Bundesebene, dann sollen die alten Anlagen künftig wieder häufiger ans Netz gehen. Reservekraftwerke sollen künftig »nicht nur zur Vermeidung von Versorgungsengpässen, sondern auch zur Stabilisierung des Strompreises zum Einsatz kommen«, heißt es im Papier der Arbeitsgruppe Klima und Energie. Die einhellige Logik von Schwarz-Rot: Ein größeres Angebot soll die Preise senken.

Plan mit Nebenwirkungen

In der Energiewirtschaft selbst stößt die Idee allerdings auf ein gespaltenes Echo. Die Firma Steag aus Essen, die mehrere Kraftwerke in Netzreserve betreibt, pflichtet Union und SPD bei: Der zeitweise Einsatz von Reservekraftwerken könnte den Börsenstrompreis in sehr teuren Stunden  halbieren – und somit große Industriebetriebe entlasten, die ihren Strom kurzfristig im Großhandel einkaufen.

Deutschlands größter Stromerzeuger RWE indes warnt, dass die Idee von Schwarz und Rot »mehr schadet als nützt«. In einem Papier des Konzerns, das dem SPIEGEL vorliegt, heißt es: »Die Rückkehr alter Kraftwerke aus der Reserve ist ein Irrweg.« Sie würde den Strompreis nicht senken, hätte aber erhebliche Nebenwirkungen.

So würden alte Kraftwerke, die »über Jahre in der Reserve alimentiert wurden«, mit den Plänen von Union und SPD neue Batterien und flexiblere Kraftwerke aus dem Markt drängen, unkt RWE. Dabei brauche der Strommarkt der Zukunft, der von erneuerbaren Energien dominiert wird, genau solche neuen Anlagen. Schließlich speichern Batterien bei niedrigen oder gar negativen Großhandelspreisen ein – und schaffen so einen gewissen Ausgleich der Extreme auf dem Strommarkt.

Deutschland erlebt zwar seit ein paar Jahren einen Boom bei der Installation von Batteriespeichern, doch bei RWE glaubt man: »Ohne die Sicherheit, dass Reservekraftwerke nicht mehr im Strommarkt eingesetzt werden, wären diese Batterieprojekte nicht in diesem Umfang gekommen.«

Wenn ein neueres Gaskraftwerk unwirtschaftlich wird, weil alte Kraftwerke aus der Reserve die Börsenstrompreise senken, hätte der Betreiber sogar einen Anreiz, mit seinem neueren Kraftwerk in die Reserve zu wechseln. Dann würde er damit keinen Verlust mehr erwirtschaften, stattdessen würde der Staat die Betriebskosten übernehmen. Die Kosten würden letztlich als Teil der Netzentgelte auf alle Verbraucher umgelegt, wie es bei Reservekraftwerken üblich ist. »Das ist ein absurder Effekt!«, kritisiert RWE. »Es ist daher unwahrscheinlich, dass die Rückkehr der Reserve überhaupt eine Entlastung beim Verbraucher bewirkt.«

Der Konzern geht auch davon aus, dass große Stromverbraucher wie zum Beispiel Industriebetriebe im Falle einer Rückkehr der Reservekraftwerke weniger Anreize hätten, langfristige Abnahmeverträge zu schließen, um sich vor Preisspitzen zu schützen. RWE kritisiert daher, dass die Idee von Schwarz-Rot nur Stromverbraucher schützen würde, »die sich bewusst für dieses Risiko und gegen eine Absicherung entschieden haben«.

Kurzfristiger Effekt, langfristiges Problem

Bereits zuvor hatte die Preisagentur Argus Media prognostiziert, dass eine Rückkehr von Kohlekraftwerken aus der Netzreserve die Strompreise »wahrscheinlich nicht wesentlich senken« würde. Dies könnte zwar »kurzfristig Wirkung zeigen«, so Argus-Expertin Helen Senior, da Kohlekraftwerke in den vergangenen Monaten niedrigere Betriebskosten als Gaskraftwerke hatten. Doch mit Blick auf die Zukunft würden die CO₂-intensiven Kohlekraftwerke besonders vom Anstieg der Preise für Emissionsrechte in der EU betroffen sein.

Auch die Denkfabrik Agora Energiewende mahnt, dass eine Umwidmung von Reservekraftwerken Investitionen in Großbatterien hemmen und »damit perspektivisch das Stromsystem teurer« machen würde. Der Verein der Kohlenimporteure begrüßt hingegen den Plan von Union und SPD als wirksames Mittel, um Preisspitzen und zeitweise Produktionsstopps energieintensiver Betriebe wie im vergangenen Winter zu vermeiden.

Die unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der Energiewirtschaft sind Ausdruck unterschiedlicher Eigeninteressen. RWE etwa investiert selbst in große Batteriespeicher und drängt darauf, dass die neue Bundesregierung bald den Bau neuer, flexibler Gaskraftwerke in Deutschland auf den Weg bringen sollte.

Das Haus von Noch-Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte dazu zwar ebenfalls eine Strategie  und einen Gesetzentwurf vorgelegt, letztlich aber keine Mehrheit mehr im Bundestag gefunden. Union und SPD wollen entsprechende Ausschreibungen nun »schnellstmöglich« auf den Weg bringen, wie es im Papier der Arbeitsgruppe Klima und Energie heißt.

Derzeit befinden sich deutschlandweit Kraftwerksblöcke mit einer Gesamtleistung von knapp 8,6 Gigawatt (GW) in der Netzreserve, wie Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen, darunter vor allem Steinkohleanlagen. Weitere Kraftwerke mit einer Leistung von knapp 1,4 GW sind in der sogenannten Kapazitätsreserve. Das entspricht zusammen etwa elf Prozent der installierten Leistung aller konventionellen Kraftwerke in Deutschland; erneuerbare Energien also nicht eingerechnet.

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