Als der deutsche Schlaks die Olympia-Sensation schaffte

Fast drei Jahrzehnte ist der größte sportliche Erfolg von Frank Busemann schon her, noch immer hängen alle an seinen Lippen, wenn er von den Olympischen Spielen 1996 erzählt. Silber als 21-jähriger Neuling des Zehnkampfs. Längst hat der nun 50-Jährige neue Passionen gefunden. Die Liebe zur Leichtathletik aber bleibt.

"Es ist 1996." Der 31. Juli. Atlanta. Olympische Spiele. Im Stadion der Leichtathleten haben die Zehnkämpfer Aufstellung genommen. Große muskulöse Typen wie der Favorit Dan O'Brien aus den USA. Der amtierende Weltmeister steht auf Bahn 8 für die 100 Meter, die erste Disziplin des zweitägigen Zehnkampfes. Neben ihm ein gerade einmal 21-jähriger Schlaks mit blonden Haaren. "Beine wie ein Pfingstochse und Arme wie die Krampfadern eines Spatzen", hat Franz Josef Busemann laut Aussage des so Bezeichneten mal über den Neuling im Zehnkampf gesagt. Über seinen Sohn. Frank Busemann, der auf Bahn 7 in den größten Wettkampf seines Lebens startet.

"Soll ich's wirklich machen oder lass ich's lieber sein?", hat er sich nicht gedacht. "Ich hatte keine Angst. Ganz im Gegenteil. Ich war motiviert bis unter die Haarspitzen, denn ich wusste, was ich draufhatte", erinnert sich Busemann bei leichtathletik.de 2020 zurück. Dabei hat er vor Atlanta gerade einmal vier Zehnkämpfe absolviert, hatte erst kurz zuvor vom Hürdensprint umgesattelt. Vielleicht ist es die Lockerheit der Jugend, ganz sicher aber das Selbstbewusstsein, das ein Spitzensportler braucht. Und eigener Aussage zufolge ist er zudem beflügelt von eben jenem Weltmeister neben ihm, der ihn - den doch eigentlich so unbekannten Deutschen - im Callroom kurz zuvor per Handschlag begrüßt und zu den Hürdenrekorden gratuliert hatte.

Es zündet jedenfalls. 10,60 Sekunden, Bestzeit über 100 Meter. Ein Topstart. Es folgen 8,07 Meter im Weitsprung - die bisherige Bestleistung um satte 47 Zentimeter pulverisiert. Aber es folgen auch Fußschmerzen, Busemann muss die Zähne zusammenbeißen. Beim Kugelstoßen passiert etwas, das so außergewöhnlich wie typisch für die Zehnkämpfer ist. O'Brien will sich nicht damit zufriedengeben, dass Busemann nur 13,60 Meter stößt. "Schau mal Frank, ich zeige dir mal eben, wie das geht. Du hast so gut angefangen und machst dir das jetzt durch solche leichten Fehler kaputt", habe der Weltstar gesagt, erinnert sich Busemann noch 24 Jahre später. Ein feiner Schachzug, der sich ins Gedächtnis eingebrannt hat. Genauso wie die Bestleistung von 2,04 Meter im Hochsprung und der Abschluss des ersten Tages, die 400 Meter. "Das sitzt im Schlaf. Die Punktezahl, die einzelnen Disziplinen, was haben die anderen gemacht, was habe ich gefühlt. So intensiv wie ich mich damit beschäftigt habe, ist das auch kein Wunder", erklärt er jüngst der dpa.

Busemann setzt "einen Zehner" auf Weltmeister Kaul

"Ich wette, heute machen wir erneute fette Beute" gehört aber nicht zu den Dingen, die Busemann denkt. Im Gegenteil, obwohl sein Vater und Trainer ihm erklärt, er würde auf Platz zwei liegen - die Medaille ist gedanklich ganz weit weg. Auch, weil im Zehnkampf alles passieren kann. Das vermittelt Busemann seit 2003 als ARD-Experte mit ansteckender Leidenschaft. Er ist der erste, der 2019 bei der WM in Doha voraussagt, dass Niklas Kaul Weltmeister wird, wenn alles normal weitergeht. Dabei liegt der damals ebenfalls 21-jährige Deutsche nach dem ersten Tag nur auf Platz elf. Als Kaul sich nach Bestleistungen im Diskuswurf und Stabhochsprung immerhin auf Platz sechs vorgearbeitet hat, sagt Busemann: "Ich setze einen Zehner darauf, dass er Weltmeister wird."

Busemann ist alles andere als ein Spinner, sondern ein Kenner und akribischer Tüftler. Erst als Athlet, dann auch als Experte. Er weiß nach den acht Disziplinen, dass Kaul ein überragender Speerwerfer und ein herausragender 1500-Meter-Läufer ist. Da kann er alle anderen überflügeln. Wie Busemann seine Prognose belegen kann? Er hat immer sein Büchlein dabei, in dem alle Punktetabellen stecken. In dem er berechnet, was für wen drin ist. Ein Schatz, der Potenzial für ein Museum hat. Nicht nur, weil Busemann natürlich Recht behält und Kaul sich zum jüngsten Zehnkampf-Weltmeister der Historie kürt.

Ob es das Büchlein schon 1996 gibt, ist nicht überliefert. Busemann kämpft am Morgen des zweiten Wettkampftages mit ganz anderen Sorgen. Er fühlt sich krank, was die medizinischen Betreuer des Teams aber wegwischen. Fünfter Zehnkampf der Karriere, Top-Leistungen am ersten Tag, plötzlich Medaillenkandidat. Er soll sich mal trotzdem warmmachen und dann wird das schon.

Sein Olympischer Rekord fällt erst 2015

"Und somit sitz' ich sozusagen in der Zwickmühle. Und das ist auch der Grund, warum ich mich vom Schicksal gefickt fühle." Busemann tut alles weh, aber er muss ja ran. Aufgeben ist nicht. Zumal seine Paradedisziplin ansteht: 110 Meter Hürden. Der Auftakt in den zweiten Wettkampftag, der für so viele eine große Hürde im wahrsten Sinne ist. Ein Stolperer, ein Hängenbleiben in einer Hürde und das wars. Oder ein Fehlstart. Der Busemann tatsächlich passiert. "Plötzlich zuckte ich, ging mit dem Hintern nach oben und bemerkte, dass das viel zu früh war", ein Desaster, auch wenn es noch nicht das Aus bedeutet, es gäbe einen zweiten Start nach Verwarnung. Doch der Patzer von Busemann bleibt unbemerkt, statt Fehlstart ertönt der Schuss. Alle schnellen aus den Blöcken, der Deutsche aber verschenkt mit seiner Reaktion Zeit. Um trotzdem nach 13,47 Sekunden als Erster ins Ziel zu sprinten. Mit Olympischem Rekord innerhalb des Zehnkampfs - der erst 2015 vom Kanadier Damien Warner überboten wird.

Auch im Diskuswurf läuft's. Und beim Stabhochsprung erlaubt sich mit Tomasz Dvorak einer der Medaillenfavoriten einen entscheidenden Patzer, was Busemann erstmals an eine Medaille glauben lässt. Was ihn sofort aus der Bahn wirft und er nach 4,80 Metern keine weitere Höhe schafft. Aber egal, es folgt eine Bestleistung im Speerwurf - und dann steht nur noch der 1500-Meter-Lauf an. Der 21-Jährige kämpft, läuft quasi um sein Leben. Und es reicht. Silber. Bei Olympischen Spielen. Mit persönlicher Bestleistung, an die er nie wieder herankommt.

Busemann ist zu k.o. für Party

"Es steigen einem die Tränen in die Augen, wenn man sieht, was mit mir passiert und was mit mir geschieht. Es erscheinen Engelchen und Teufelchen auf meiner Schulter. Engel links, Teufel rechts: Lechz." Der Engel, das ist bei Busemann die Freude über die unerwartete Medaille. Der Teufel, das ist die pure Vorfreude auf eine einzige Sache: Schlaf. "'Scheiße, du kannst jetzt schlafen. Es ist einfach nur vorbei", dachte ich mir. Ich wollte nur liegenbleiben und hätte noch auf der Bahn einschlafen können. Das wäre so schön gewesen", rekapituliert er für leichtathletik.de. Und die Tränen? Die vergießt er dann zusammen mit seinem Vater, der fix und fertig ist. An jenem Abend ist an Party nicht mehr zu denken. Das kann er nachholen, als er am Ende 1996 zu Deutschlands Sportler des Jahres gewählt wird.

"Aha, und dabei biste eingeladen, auf das beste aller Feste auf der Gästeliste eingetragen." Fast 29 Jahre später sagt Busemann allerdings: "Ich bin nicht so der Feierheini", und blickt auf seinen Geburtstag, denn er wird an diesem Mittwoch 50 Jahre alt. "Wenn ich ehrlich bin, dann freue ich mich darauf." Gefeiert wird nur im ganz kleinen Kreis, ganz sicher mit seiner Frau, die er beim Triumph in Atlanta bereits kennt und mit den drei Kindern.

Heute als Speaker und Experte unterwegs

Kilometer reißt Busemann noch heute ab. Wenn er die Laufschuhe schnürt und mal eben einen Halbmarathon läuft. Wenn er im Auftrag des Sportabzeichens durch Deutschland tourt. Begeistern für den Sport, das will er unbedingt. Macht er sich doch Sorgen um die deutsche Leichtathletik. "Die Welt hat sich weiterentwickelt - und wir müssen versuchen, wenigstens den Status zu erhalten", sagt er der dpa. "Ich bin ein Riesenfan der Leichtathletik, aber manchmal leide ich ein bisschen, weil es doch größere Probleme gibt." Er freut sich, live dabei sein zu können, wenn deutsche Athleten Olympiamedaillen holen, das habe Signalwirkung für den Nachwuchs. Er reißt auch Kilometer ab, wenn er als Speaker unterwegs ist und in Unternehmen Mitarbeiter motiviert, Erfolgsprinzipien vom Sport in die Wirtschaft überträgt. Worüber er mit "Mach's doch einfach" auch ein Buch geschrieben hat. Und wenn er im Auto wie ein Verrückter von Halle A nach Halle B düst, weil seine Söhne Handball spielen, beide parallel Turniere haben und er nichts verpassen will. Das schildert er in witzigen Posts bei Instagram.

"Soll ich's wirklich machen oder lass ich's lieber sein?" Das ist eine Frage, die sein Körper Busemann abnimmt. Er wird 1997 zwar noch WM-Dritter, doch sein Körper hält den Strapazen nicht auf Dauer stand. 2003 ist Schluss mit der aktiven Karriere. Er wechselt direkt in die Rolle des Experten. Die Arbeit mache ihn "total glücklich" und er empfinde sie als "unfassbares Privileg", sagt Busemann der dpa. Er kann da weiter ganz nah dran sein, kann die Freude und das Spektakel vermitteln. Und miterleben, wie der junge Niklas Kaul sich in die Geschichtsbücher einträgt. Kaum jemand wird das so nachempfinden können, wie der junge Schlaks von 1996, der da neben dem großen Dan O'Brien stand und zum größten Wettkampf seines Lebens antrat.

Die Lied-Zitate stammen aus dem Song "Jein" von Fettes Brot.

Das könnte Ihnen auch gefallen