Halb genial, halb fatal
Mia san mamma mia: Blankes Entsetzen te sich im Blick von Gianluigi Donnarumma, als Italiens Torhüter in der 36. Minute ein zweites Mal hinter sich greifen musste. Sekunden zuvor hatte er einen wuchtigen Kopfball von Stürmer Tim Kleindienst über die Latte gelenkt, danach aber Gesprächsbedarf mit seinen Vorderleuten gesehen. So viel Gesprächsbedarf, dass kein Italiener – nicht Donnarumma, nicht seine Verteidiger – mitbekam, dass der folgende Eckball längst freigegeben war. Joshua Kimmich spielte in die Mitte, Jamal Musiala schoss den Ball ins leere Tor. »Teilweise haben es nicht einmal unsere eigenen Spieler mitbekommen, dass der Ball schon drin war«, sagte Kimmich nach dem Spiel. Es war ein Blackout, wie er auf diesem Niveau vielleicht alle zehn Jahre mal passiert.
Das Ergebnis: 3:3 (3:0) – die deutsche Fußballnationalmannschaft zittert sich ins Halbfinale der Nations League, nachdem Italien zur Pause bereits demontiert schien. Allzu gefährdet war das Weiterkommen jedoch nie, denn bereits am Donnerstag in Mailand hatte es einen Sieg gegeben. Zum Spielbericht geht es hier.
Leistung lohnt sich: Ein überragendes Hinspiel hatte die deutsche Mannschaft sicher nicht abgeliefert. Ein ziemlich gutes, sicher, aber Julian Nagelsmann sah doch auf so mancher Position Luft nach oben. So tauschte der Bundestrainer auf vier Positionen, Stürmer Kleindienst etwa rückte nach seinem Treffer in die Startelf. Und auch Nico Schlotterbeck, Local Hero in der Dortmunder Arena, durfte von Beginn an ran – in einer Hybridrolle aus Links- und Innenverteidiger, aus der Schlotterbeck immer wieder bis tief in des Gegners Hälfte vorstieß, um den Ball zu erobern.
Spiel- statt Muskelaufbau: Giftig, nahe am Mann: Über die Zweikämpfe kaufte die DFB-Elf den Gästen den Schneid ab, drückte Italien in die eigene Hälfte. Bloße Kraftmeierei war das nicht. Leon Goretzka taugte als Sinnbild: Die Muskelpakete, die sich der DFB-Rückkehrer noch zu Pandemiezeiten antrainiert hatte, sind mittlerweile Geschichte. Aus der Formkrise heraus arbeitete sich ein neuer, drahtiger Goretzka – mit der Beweglichkeit, durchs Mittelfeld zu spazieren und Tim Kleindienst so in Szene zu setzen, dass sich Alessandro Buongiorno nur per Foul zu helfen wusste. Kimmich verwandelte den fälligen Elfmeter (30.).
Schneller, als das TV erlaubt: Es folgte der bizarre Musiala-Treffer, begünstigt von einem aufmerksamen Balljungen und überraschten Italienern. Kurios: Im Livebild von Sender RTL bekamen die Zuschauer das Tor zunächst gar nicht mit, stattdessen lief eine Wiederholung von Kleindiensts Kopfballchance. Zu rechnen war mit einem solchen Lapsus aber auch nicht. Zuletzt passierte Ähnliches auf der großen Fußballbühne 2019: Beim FC Liverpool reichen die drei Worte »corner taken quickly«, um Erinnerungen an Trent Alexander-Arnold und Divock Origi wachzurufen, die auf diese Weise mal ein Comeback gegen den FC Barcelona vollendet hatten.
Endlich geliebt: Größter DFB-Gewinner der ersten Hälfte war aber wohl Kapitän Kimmich. Der hatte nicht nur im Hinspiel beide Treffer vorbereitet, sondern war auch vor der Pause mit zwei Assists und dem Elfmetertreffer bester Mann auf dem Platz. »Die erste Halbzeit war wirklich sehr, sehr sexy anzugucken«, freute sich der Bayern-Profi nach dem Spiel. Als der Rechtsverteidiger beim DFB noch im Mittelfeld spielte, galt Kimmich manchem als Sollbruchstelle – inzwischen ist er der unumstrittene Anführer.
Lothar-Jinx: Nach den sexy 45 Minuten wollte auch TV-Experte Lothar Matthäus, zur Feier des Länderspieltages im feinen Anzug, mehr sehen: »Es gibt keinen Grund, dieses Fußballfest nach 45 Minuten abzubrechen«, so der Rekordnationalspieler. Das sah die DFB-Elf allerdings anders.
Merkt euch seinen Namen: Zur Pause wechselten die Italiener doppelt, brachten Matteo Politano und Davide Frattesi, kamen besser in die direkten Duelle. Hauptgrund dafür, dass Deutschland noch einmal zittern musste, war aber der Mittelstürmer der Azzurri: Moise Kean nutzte erst einen Fehlpass von Leroy Sané zum 1:3 (49.), traf dann zum Anschluss (69.). Auch die Aussprache des Angreifers klärte sich: Nicht wie Harry Kane, sondern wie der Barbie-Gegenpart Ken. Zuletzt hatte die ARD-Übertragung des Hinspiels bezüglich der zwei Varianten für Verwirrung gesorgt.
Halb so wild: So wurde es in der Schlussphase noch einmal spannend. Giovanni di Lorenzo ging gegen Schlotterbeck zu Boden, bekam den Elfmeter nach VAR-Intervention jedoch nicht (74.). Es folgten Chancen auf beiden Seiten, sogar eine kleine Rudelbildung mit Alessandro Bastoni und Kleindienst in den Hauptrollen (79.). Als es dann tatsächlich Elfmeter für Italien gab – Maximilian Mittelstädt hatte den Ball per Faustschlag geklärt (90.+4) –, befand sich das Spiel zu tief in der Nachspielzeit, als dass die Gäste noch mehr als das 3:3 herausholen könnten. Nagelsmann las den Einbruch seines Teams optimistisch: »Vielleicht ist es für uns auch besser, wenn wir heute nicht 4:0 gewinnen, sondern merken, was wir leisten können – dass wir aber diesen guten Fußball das ganze Spiel über zeigen müssen.«
Gianluigi Donnarumma kassierte drei Gegentore, eines davon besonders deprimierend
Foto: Alex Grimm / Getty ImagesMoise Kean traf doppelt, trotzdem reichte es nicht zum Weiterkommen für Italien
Foto: Thilo Schmuelgen / REUTERS