"Wir haben es völlig damit übertrieben"
Alle reden darüber, doch kleiner scheint das Problem nicht zu werden: Bürokratieabbau ist eins der dicksten Bretter, das Schwarz-Rot durchbohren muss. Der Normenkontrollrat (NKR) berät die künftige Regierung. Im Interview erklärt dessen Vorsitzender Lutz Goebel, was getan werden muss.
ntv.de: Herr Goebel, alle schimpfen auf die Bürokratie, Friedrich Merz bezeichnet sie mittlerweile als Monster. Ist sie das? Oder hat sie auch ihre guten Seiten?
Lutz Goebel: Wir müssen natürlich gewisse Spielregeln setzen, die für alle gelten. Dafür brauchen wir die Bürokratie. Nicht jeder kann tun, was er möchte. Aber wir haben es völlig damit übertrieben. Die letzten vier Jahre haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Da kam aus Brüssel noch besonders viel hinzu.
In manchen Städten dauert es ewig, Termine beim Bürgeramt zu bekommen, Unternehmen stöhnen über Berichtspflichten und anderen Aufwand. Was sind für Sie Beispiele von zu viel Bürokratie?
Eines der größten Hemmnisse sind die langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Deshalb war es so wichtig, dass Bund und Länder Ende 2023 einen Beschleunigungspakt mit vielen konkreten Maßnahmen beschlossen haben - darunter auch etliche Vorschläge des NKR. Insbesondere beim Ausbau der Windenergie sind wir deutlich schneller geworden. Aber die Umsetzung des Paktes könnte noch schneller sein. Bis November 2024 waren 38 Prozent der Beschleunigungsmaßnahmen abgeschlossen. Jetzt sollten Maßnahmen priorisiert werden, die zwar herausfordernd sind, aber den größten Beschleunigungseffekt bringen. Zum Beispiel Stichtagsregelungen und einheitliche Standards im Natur- und Artenschutz sind entscheidende Hebel, um Verfahren zu straffen und Mittel tatsächlich auf die Straße, die Schiene oder in den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft zu bringen.
Wie bringt man mehr Tempo rein?
Ein Mittel zur Beschleunigung liegt in der Verbindlichkeit von Fristen, beispielsweise bis wann sich alle Parteien beispielsweise zu einem großen Bauprojekt, geäußert haben müssen. Danach kann dann kein Einspruch mehr erhoben werden. Oder nehmen Sie die Erörterungstermine: Bis jetzt kann jeder Einwendungen erheben. Das ist einfach zu aufwendig. Es sollten nur die Einwendungen erheben können, die davon betroffen sind. Zum Beispiel die großen Umweltverbände. Da ist sehr viel zu holen.
Wie sieht es mit den Berichtspflichten aus? Das Lieferkettengesetz wird ständig kritisiert. Ist es wirklich so schlimm?
Der Aufwand ist enorm. Ich muss praktisch all meinen Kunden nachweisen, dass es beispielsweise keine Kinderarbeit oder Umweltverschmutzungen bei meinen Lieferanten gab. Das ist gar nicht leistbar. Woher soll ich denn wissen, woher der Sand für die Mikrochips herkommt, die ich irgendwo einbaue? Als Unternehmen bekommen wir vielfältigste Fragebögen, jedes Unternehmen einen anderen. Da wäre es klug, wenn wenigstens alle den gleichen bekämen und der auch nicht 20 Seiten, sondern nur fünf Seiten lang wäre.
Wie viel Ressourcen bindet die Bürokratie in einem Unternehmen?
Es gibt mehrere Studien darüber. Bei großen Unternehmen ist es etwa ein Prozent des Umsatzes, die haben dafür eigene Abteilungen. Blei kleinen und mittleren Unternehmen sind es bis zu drei Prozent. Deutsche Unternehmen verlieren in normalen Jahren also etwa drei Prozent vom Umsatz. Damit ist ein Großteil des Gewinns schon aufgefressen. Das ist gewaltig.
Praxischecks sollen helfen, welche Folgen Regelungen und Gesetze tatsächlich haben. Hat sich das Instrument bewährt?
Das Bundeswirtschaftsministerium hat in der Ampel viele Praxischecks gemacht, bei Photovoltaik-Anlagen, bei Windkraft und bei Gründungen. Die haben sich die gesamte Gesetzeslandschaft angeschaut und gefragt: "Wo sind die Hindernisse?" und sie aus dem Weg geräumt.
Jetzt haben Sie schon zweimal die Grünen gelobt, für Bürokratieabbau.
Die Grünen haben bei der Energiewende viele Hindernisse identifiziert, die sie dringend beiseite räumen wollten. Zum Beispiel beim Thema PV-Anlagen auf Supermärkten. Das ist ja eine kluge Idee. Die Betreiber sagten ihnen aber, das sei viel zu kompliziert. Dann habe sie sich mit denen hingesetzt und die Hindernisse eins nach dem anderen abgeschafft. Das fand ich einen pragmatischen Ansatz. Das hat mir gefallen.
Es gibt dieses Beispiel eines Bäckers. Wegen des Arbeitsschutzes braucht er raue Fliesen, damit niemand ausrutscht. Doch wegen der Hygiene braucht er glatte Fliesen, damit sich das Mehl darin nicht festsetzt. Ist das typisch?
Ich habe noch ein Beispiel aus Bayern. Dort hat ein Eichamt gesagt, sie bräuchten eine Eichmaschine, um nachzumessen, ob ein Bierglas voll eingegossen wurde oder nicht. Das hat der bayerische Normenkontrollrat glücklicherweise verhindert. Ein Handwerksbetrieb ist betroffen vom Gewerbeaufsichtsamt und von den Berufsgenossenschaften, die regelmäßig prüfen. Die wollen auch immer etwas finden, sonst wären sie ja überflüssig. Da könnte man zum Beispiel sagen, es kontrolliert nur noch einer. Das müsste die Politik entscheiden.
Viele Menschen wünschen sich mehr Digitalisierung in der Kommunalverwaltung, zum Beispiel um ein Auto anzumelden oder einen Reisepass zu beantragen. Teilweise gibt es das auch schon. Aber warum geht das so schleppend?
Das ist alles sehr schwierig. Wir haben 11.000 Kommunen. Da sind große Städte dabei wie München oder Köln, die haben große Verwaltungen mit einer großen IT. Die können sich selbst digitalisieren. Aber es gibt auch Kommunen mit 2000 Einwohner, und die sollen das auch darstellen. Das geht schon finanziell nicht. Wir haben vorgeschlagen, unterschiedliche Verwaltungsleistungen an ein paar Stellen in Deutschland zu bündeln. Das ginge bei der Beantragung eines Führerscheins oder der KfZ-Anmeldung. Das muss dann durchweg digital funktionieren, vom Antrag bis zur Genehmigung und Ausstellung der Papiere.
Warum ist das nicht längst so?
Im Föderalismus hat der Bund bisher nicht genug Möglichkeiten, erfolgsversprechende Vorgaben zu machen. Gerade mit Blick auf die Digitalisierung sollte sich hier etwas ändern. In einem eigenen Digitalministerium und einer Digitalagentur läge enorm viel Potential. Die könnten dann sagen, wie es gemacht werden soll. Bisher lag die Zuständigkeit im Bundesinnenministerium und hatte offenbar keine Priorität.
Bürokratie bedeutet konkret oft Arbeitsschutz, Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Datenschutz - alles wichtige und gute Ziele. Aber wo sind wir falsch abgebogen, dass es jetzt so viel geworden ist?
Es ist ein Fehler unserer Gesetzgebung, dass man den Vollzug nicht ausreichend mitdenkt. Sie müssen die Leute aus den Ämtern in den Kommunen dazuholen und fragen, wie man den Aufwand geringhalten kann. Hinzukommt: Wir Deutschen lieben die Einzelfallgerechtigkeit. Wir wollen alles bis ins kleinste Detail regeln, damit es keine Ungerechtigkeiten gibt. Das ist aber nicht mehr darstellbar. Wir haben Ansprüche an den Staat, die er nicht mehr befriedigen kann. Stattdessen müssen wir den Menschen in den Ämtern und den Kommunen mehr Verantwortung geben und Fehler zulassen. Es braucht eine neue Verwaltungskultur.
Man fordert immer von einzelnen Verwaltungsbeamten, unbürokratisch zu sein, aber die müssen sich doch auch an die Gesetze halten. Und am Ende sind sie es, die für Fehler geradestehen.
Das ist so, und für Dinge, die mit Leib und Leben zu tun haben, darf es auch kein Pardon geben. Aber bei allem anderen gibt es große Spielräume, auch in der bestehenden Rechtslage. Eine Behördenleitung muss ein breites Kreuz haben und den Mitarbeitern sagen: ihr macht. Kleine Fehler sind kein Problem und über die großen reden wir, damit sie sich nicht wiederholen. Da muss es ein Umdenken geben.
Die EU will 25 bis 35 Prozent des Verwaltungsaufwandes für Unternehmen abschaffen. Trauen Sie ihr das zu?
Ich traue ihr das zu, wobei wir gar nicht wissen: 25 Prozent wovon? Dafür müsste man erst definieren, wie groß der bürokratische Aufwand ist. Sonst lässt sich das Ergebnis nicht messen.
Ex-Justizminister Marco Buschmann hat mal gesagt, er könne gar nicht so viel Bürokratie abschaffen, wie aus Brüssel nachkommt. Wie kommt das?
Die letzte Kommission wollte im Rahmen des Green Deals alles von A bis Z regeln. Wir Deutschen waren in Brüssel nicht präsent genug und haben uns hinterher gewundert, was da alles beschlossen wurde. Wir müssen also mehr Einfluss nehmen in Europa, welche Gesetze überhaupt auf den Tisch kommen. Und wir müssen damit aufhören, auf Vorgaben aus Brüssel immer noch eins draufzusetzen. Wir sollten sie maximal 1:1 umsetzen.
Kürzlich ist das vierte Bürokratieentlastungsgesetz in Kraft getreten, das noch von der Ampel beschlossen wurde. Wird das ein erster Befreiungsschlag?
Beim Erfüllungsaufwand hat dieses Gesetz etwas über 900 Millionen Euro Entlastung gebracht. Daneben gab es noch die Wachstumsinitiative und einzelne Initiativen aus den Ministerien. Das war schon gut, aber es war viel zu aufwendig. Wir brauchen nicht ein einzelnes Gesetz, sondern Pakete von Initiativen. Das empfehlen wir auch der künftigen Bundesregierung.
Als Normenkontrollrat versuchen Sie schon bei der Gesetzgebung die Bürokratie in Grenzen zu halten. Wie muss man sich das vorstellen? Wie ein kleiner Feuerlöscher bei einem Großbrand?
Wir möchten beim Normenkontrollrat wirklich etwas bewirken. Zum Ende der letzten Legislaturperiode hat sich ein Momentum aufgebaut. Jetzt ist es wichtig, den eingeschlagenen Kurs nicht als selbstverständlich anzusehen! Der Druck muss aufrechterhalten werden, um das erreichte Momentum in konkrete, nachhaltige Maßnahmen im Koalitionsvertrag zu überführen. Das Thema Bürokratieabbau ist riesengroß, wie eine Hydra. Das Denken muss sich grundlegend ändern. Man muss die Gesetze am Anfang besser machen oder sich öfter gleich gegen eine Regulierung entscheiden. Sonst entstehen Monster, die immer größer werden.
Es gibt dieses Zitat: Wenn ein Politiker Bürokratieabbau verspricht, hat er schon gelogen. Was macht Sie zuversichtlich?
Das würde ich so nicht sagen. Ja, es wurde viel jahrelang versprochen und wenig geliefert. Aber die Zeiten ändern sich. Die Politiker haben verstanden, dass es so nicht mehr weitergeht.
Mit Lutz Goebel sprach Volker Petersen