Lügenverbot per Gesetz – damit sollte gerade Friedrich Merz vorsichtig sein

Es gibt Sätze, die sind so gut gemeint, dass sie mir Angst machen. Im Kapitel »Kultur und Medien« des künftigen Koalitionsvertrages stehen solche Sätze. Diese Arbeitsgruppe unterscheidet sich von den meisten anderen dadurch, dass hier nahezu nichts mehr strittig ist zwischen SPD und CDU/CSU. Es steht also nahezu nichts in blauer Schrift (das hätten CDU/CSU gern, doch die SPD nicht) oder in roter Schrift (umgekehrt). Alles ist in Schwarz geschrieben. Und man muss nicht zu einem dieser geifernden AfD-Vorfeldportale gehören, um diese Sätze besorgniserregend zu finden, weil sie so ganz und gar nicht zu Ende gedacht erscheinen: »Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.«

Nanu? »Lügen verboten«? Klingt wie aus dem »Struwwelpeter«, aber soll als Nächstes im Bundesgesetzblatt zu lesen sein? Ist das ernst, autoritär oder nur besonders gut gemeint? Im ersten Impuls erinnerte mich das an die Schilder meiner Kindheit: »Spielen verboten!«. Und daran, was später die Spontis drunterschrieben: »›Spielen verboten‹ gehört verboten«. Und an das, was ich vor langer Zeit von einem Chefredakteur hörte, den ich als junger Journalist sehr verehrte: »Ein Gesetz, das man nicht vollziehen kann, ist ein schlechtes Gesetz.« So wird es kommen, wenn so ein Gesetz kommt.

Ich bin kein Jurist, aber mir scheint die Passage auf einem Feld nach schwarz-weißer Eindeutigkeit und nachfolgender Handlungsermächtigung zu streben, das dafür nur sehr bedingt geeignet ist. Es gibt seit Langem letztinstanzliche Rechtsprechung, die nachweislich unwahre Tatsachenbehauptungen (»Die Erde ist eine Scheibe«) eben nicht unter den grundgesetzlichen Schutz der Meinungsfreiheit nimmt, einfach, weil sie keine Meinungsäußerung darstellen, sondern die Behauptung falscher Tatsachen. Damit sind solche Äußerungen nicht verboten, aber vom Grundgesetz geschützt sind sie eben auch nicht. Wer dafür in der Debatte einen drüber kriegt, kann sich mithin nicht in diese elende Robin-Hood-Pose des Rächers der Entrechteten werfen und jammern: Es ist doch Meinungsfreiheit. Ist es nicht, weil: Ist ja keine Meinung.

Es gibt aber auch Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, wonach (falsche) Tatsachenbehauptungen, die mit Meinungsäußerung verwoben sind, gleichsam wegen des Meinungsanteils unter dem grundgesetzlichen Schutz der Meinungsfreiheit stehen. »Missliebige Kritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt«, hieß es einmal (ohne große Beweise) über den Bayer-Konzern , der mit einer Klage dagegen in Karlsruhe trotzdem unterlag. Die Abgrenzung passt immer nur zum Einzelfall, und der pragmatische Konservative von nebenan rät darum zu großer Zurückhaltung bei pauschaler Gesetzgebung. Zudem existieren bereits ein halbes Dutzend von Straftatbeständen rund um die Lüge in ihren vielen Facetten, als da wären Betrug (§263 StGB ), falsche Verdächtigung (§164 ) oder Urkundenfälschung (§267 ).

Näher an unserem Thema liegen freilich »üble Nachrede« (§186 ), Verleumdung (§187 ), uneidliche Falschaussage und solche unter Eid (§153 , §154 ). Schließlich ganz nah kommt der Sache mit der »Lüge« der Paragraf 130 (Volksverhetzung). Darin wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bedroht, wer u.a. den Massenmord an den Juden »öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost«. Vulgo: Von einer angeblichen »Ausschwitz-Lüge« zu schwadronieren, um den Holocaust zu leugnen – das ist strafbar, und das ist gut so, wie sogar manche Teile der AfD unterschreiben würden.

Dass der Grat dennoch schmal ist, erwies sich 2018, als der damalige AfD-Chef Alexander Gauland bei einer Parteiveranstaltung in Thüringen sagte (wo sonst?): »Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte.« Dass ein früher nachweislich Konservativer derart über die eigene Geschichte lügen kann, bleibt auf ewig beschämend. Strafrechtliche Ermittlungen gegen Gauland wurden wenig später gleichwohl eingestellt: »Die Aussagen seien im Gesamtkontext der Rede durch die Meinungsfreiheit gedeckt«, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Das Problem ist nun einmal nicht so sehr ein juristisches oder eines von besserem Verwaltungsvollzug. Das Problem ist ein gesellschaftliches, nämlich der manifest galoppierende Schamverlust, die neue politische wie persönliche Schamlosigkeit, nicht selten selbst entblößend, nicht selten schlichtweg böse. Diese Schamlosigkeit bahnt der Lüge erst so richtig den Weg. In letzter Zeit lügen und wüten immer mehr schamlos im Netz herum oder auf öffentlichen Plätzen. Ich fürchte, es klingt ziemlich konservativ, wenn ich an dieser Stelle sage: Früher war es besser. Aber vielleicht irre ich mich auch.

Schließlich ist der Verlust der Scham keineswegs eine Einbahnstraße ins Böse. Die Befreiung von Scham kann emanzipatorisch sein. Sie kann sozial sein, weil manche sich, wiewohl arm, auch heute noch zu lange schämen, zum Amt zu gehen und Hilfe anzunehmen. Mal muss sich die Mehrheit irgendwann ihrer Taten oder Ansichten schämen und mal eine Minderheit. Klar ist nur: Scham per Gesetz, ein Gesetz gegen die (politische) Lüge, das wird nicht funktionieren. Die Zusammenhänge sind zu kompliziert, zu kapillar, zu zeitgeistig, um in einem Gesetz und von irgendeiner »Medienaufsicht« geregelt zu werden.

Nein, es bleibt nicht viel anderes, als mit gutem Beispiel voranzugehen oder wenigstens ein bisschen Demut zu zeigen. Nach einem Wahlkampf, in dem man es allseits mit den Fakten wirklich nicht so genau nahm, sollte gerade auch Friedrich Merz kein Gesetz in Angriff nehmen, das mindestens auf den ersten Blick die Überschrift »Lügen verboten« tragen könnte.

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