Das tägliche »Müssen«
Mein Vater war kein sonderlich ernster Mensch. Er pflegte immer zu sagen: »Ich muss gar nichts, außer sterben.« Als Kind hat mich das genervt. Besonders, weil ich in vielen Situationen eben doch musste. Gemerkt habe ich mir den Satz trotzdem. Streng genommen ist er wahr. (Noch so ein großes Wort).
Jedenfalls denke ich viel über das »Müssen« nach, seit ich selbst Vater bin – und zu meinem Kind häufig sage, sie oder ich müssten dies oder jenes tun. Stimmt auch, mehr oder weniger. In meinen Ohren hört es sich trotzdem komisch an, so absolut: Du musst jetzt deine Schuhe anziehen! Ich muss jetzt zur Arbeit!
Von einer Mutter las ich neulich, dass sie versuche, statt des Zwangs den Willen zu betonen: Nicht »ich muss«, sondern »ich möchte«. Aber möchte ich wirklich jeden Morgen zur Arbeit? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag meinen Job. Er ist abwechslungsreich, ich begegne interessanten Menschen und Schreiben erfüllt mich.
Dennoch würde ich morgens lieber bei meiner Familie bleiben. Meistens zumindest. Wenn ich meiner Tochter also sage, »Ich möchte jetzt zur Arbeit fahren«, stimmt es auch nicht ganz. Und wie soll sie verstehen, dass ihr Papa in ein karges Büro »möchte«, anstatt mit ihr zu spielen? Es ist kompliziert.
Vielleicht hilft ein Blick zu den Philosophen. Schließlich wurzelt das Konzept des »Müssens« tief in ethischen und existenziellen Überlegungen. In verschiedenen Denkschulen hat es unterschiedliche Bedeutungen und Implikationen. Es geht um Notwendigkeiten, Verpflichtungen und Zwänge, die unser Handeln beeinflussen, und bietet eine Vielzahl von Interpretationen und Anwendungen.
Aus ethischer Perspektive wird das »Müssen« oft im Kontext der Pflicht betrachtet. Immanuel Kant argumentierte, dass moralische Handlungen aus Pflicht geschehen und nicht aus Neigung. Für ihn war das »Müssen« ein Ausdruck des kategorischen Imperativs. Dabei wird das »Müssen« zur Grundlage moralischen Handelns, unabhängig von individuellen Wünschen oder Konsequenzen.
Existenzialistisch betrachtet wird das »Müssen« im Kontext der individuellen Freiheit und Verantwortung untersucht. Für Jean-Paul Sartre ist der Mensch »zur Freiheit verurteilt«, was bedeutet, dass er die Verantwortung für seine Handlungen tragen muss, ohne sich auf äußere Zwänge berufen zu können.
Beide haben recht: Wenn ich möchte, dass alle Menschen regelmäßig zur Arbeit gehen, muss ich es auch tun. Gleichzeitig steht es mir frei, zu Hause zu bleiben – allerdings muss ich dann mit den Konsequenzen leben.
Pflicht und Verantwortung
Zum Glück beschäftigt sich meine Tochter bisher nicht mit derart tiefgründigen Fragen. Kant und Sartre wären in den nächsten Jahren wohl kaum die richtigen Gesprächspartner für sie. Wie kann ich ihr in Zukunft also helfen, über die Natur der Pflicht, die Grenzen unserer Freiheit und die Verantwortung unseres Handelns nachzudenken?
In einer Welt, in der äußere Zwänge und innere Überzeugungen oft im Widerspruch stehen, ist das »Müssen« schließlich ein zentrales Thema der menschlichen Erfahrung. Darüber nachzudenken hilft uns, gute Entscheidungen zu treffen und ein gutes Leben zu führen.
Vielleicht könnte ich es ihr so erklären:
Beim »Müssen« geht es darum, zu verstehen, wann wir etwas tun sollten, weil es richtig ist, wann wir es tun müssen, weil es Regeln gibt, und wie wir für unsere eigenen Entscheidungen haften: Stell dir vor, du hast ein Spielzeug, das deinem Freund gehört, und du überlegst, ob du es zurückgeben sollst. Wenn ich sage, dass du das Spielzeug »zurückgeben musst«, meine ich, dass es das Richtige ist, weil es deinem Freund gehört und auch du erwartest, dass dir deins zurückgegeben wird. Du könntest es auch behalten, weil du in deinen Entscheidungen frei bist – aber du würdest deinen Freund damit verletzen. Mit dieser Freiheit kommt jedoch eine Schuld. Das »Müssen« hier bedeutet, dass wir die Verantwortung für unsere Entscheidungen tragen, egal, wie unangenehm das wird.
Langer Rede, kurzer Sinn: Papa muss zur Arbeit – und hat dich unendlich lieb!
Wie ist das bei Ihnen? Welche Philosophen erleichtern Ihnen die Erziehung? Schreiben Sie mir an familiennewsletter@.de .
Meine Lesetipps
Alle Eltern stehen vor der Aufgabe, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Meine Kollegin Katrin Wilkens hat deshalb für ihre Tochter (und unsere Leser) eine Liste mit Tipps für ein gelungenes Leben geschrieben. Nummer elf: Geh arbeiten.
Auf Platz drei der Liste steht: Bleib in Bewegung. Dazu passt dieser Text meiner Kollegin Petra Maier. Sie spaziert täglich 10.000 Schritte (obwohl sie weiß, dass hinter der Zahl ein Marketingcoup steckt). Wie sie die Bewegung in ihren Alltag integriert und was eine Expertin rät, lesen Sie hier .
Sie haben wenig Zeit oder Lust, mit Ihrem Kind zu spielen? Dann lesen Sie diesen Text .
Das jüngste Gericht
Der Wetterbericht sagt einen sprunghaften Temperaturanstieg voraus. Noch ist zwar nicht Frühling, aber das heutige Rezept passt hervorragend, wenn die ersten warmen Sonnenstrahlen auf den Küchentisch scheinen: ein frühlingsfrischer Salat für vier. Alles, was Sie benötigen, sind: Bohnen, Tomaten, Radieschen, Schafskäse und eine Schalotte.
Mein Buchtipp
Das Buch »Sofies Welt« wurde in den Neunzigerjahren ein Welterfolg. Der »Roman über die Geschichte der Philosophie« wurde in 50 Sprachen übersetzt. In der Geschichte geht es um ein Mädchen, das die verschiedenen Epochen und Ideen der Philosophen kennenlernt. Ein Philosophiekurs für Kinder zwischen zwei Buchdeckeln – und damit der passende Lesetipp für diese Ausgabe.
Mein Moment
Zu meinem jüngsten Familiennewsletter über gewaltfreie Kommunikation erreichten mich zahlreiche unterschiedliche Positionen.
»Lass das« und »Angst« sind Begriffe, die nichts erklären und nichts über die eigenen Absichten verraten, schrieb mir Jan Fingerhut. Das Kommando seiner Wahl war »Stopp«. Das sei besser verständlich.
»Natürlich dürfen wir laut werden und unsere Kinder auch mal anschreien«, meint Silvia Steeger. »Wichtig ist nur, dass man anschließend darüber redet und sich verzeiht.«
Isabel Grötzinger weiß: »Wenn einem alles über den Kopf wächst oder eine Gefahr droht, helfen alle Atemübungen nichts.«
Und Michael Kloster findet solche Diskussionen übertrieben: »Der Werdegang einiger junger Menschen bestätigt mir eine Überbehütung und einen zu vorsichtigen Umgang mit Kindern. Worauf wollen wir diese Menschen denn vorbereiten? Alles Friede, Freude, Eierkuchen?«
Ralf Bender hätte sich das Konzept der gewaltfreien Kommunikation ausführlicher gewünscht, besonders die »Ich-Botschaften«. Seiner Meinung verwechseln die meisten Menschen sie mit »Ich-Sätzen«.
Daher hier noch mal kurze Anleitung. Eine Ich-Botschaft besteht typischerweise aus vier Komponenten:
Beobachtung: Eine objektive Beschreibung dessen, was vorgefallen ist, ohne Bewertung oder Interpretation: »Wenn ich sehe, dass du deine Sachen auf dem Boden liegen lässt…«
Gefühl: Der Ausdruck der eigenen Emotionen in Bezug auf die beobachtete Situation: »… fühle ich mich frustriert …«
Bedürfnis: Die Klärung der zugrunde liegenden Bedürfnisse, die in der Situation nicht erfüllt werden: »… weil ich Ordnung und Sauberkeit brauche …«
Bitte: Eine konkrete und positive Handlung, die der Gesprächspartner unternehmen könnte, um das Bedürfnis zu erfüllen: »… könntest du bitte deine Sachen aufräumen?«
In diesem Sinne
Ihr Philipp Löwe
Daddy-Dilemma: Wenn Papa muss, möchte das Kind
Foto: Viktor Cvetkovic / Getty ImagesFrühlingsfrisch: Bohnensalat mit Tomaten und Radieschen
Foto: Helga Lugert / I LOVE FOOD